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Gesundheitssystem an der Grenze

Steigende Energiekosten, KI in der Medizin, Personalisierte Medikamentenentwicklung. Die Themen beim Hauptstadtkongress in Berlin sind so vielfältig wie die Herausforderungen. Ein Blick auf mögliche Lösungen mit Kongresspräsident Karl Max Einhäupl.

Steigende Kosten treiben die Krankenkassen in Richtung Bankrott, gibt es dazu auf dem Kongress Ideen?

Wir haben ein Panel mit den Chefinnen und Chefs der wichtigsten Krankenkassen, die ihre Ideen präsentieren. Das Thema betrifft aber nicht nur die Kassen. Jeder Akteur muss überlegen, was er in seinem Bereich verändern kann, damit wir weiterhin ein finanzierbares Gesundheitssystem auf hohem Niveau haben.

Was treibt neben Energie und Inflation die Kosten in die Höhe?

Es gibt wichtige Innovationen in der OP-Technik oder der Medikamentenentwicklung, die die Kosten massiv steigen lassen. Früher haben wir viel mit kleinen Molekülen behandelt. Heute sind wir zunehmend im Bereich der Biologika, die sind in der Herstellung und in der Erforschung deutlich teurer. Wenn viele Patienten Biologika bekommen, kostet das Geld – für das Gesundheitssystem.

Haben Sie ein Beispiel?

Biologika sind Antikörper zur Therapie bestimmter Erkrankungen. In der Migränetherapie haben wir früher Aspirin gegeben, was günstig herstellbar ist. Jetzt können wir mit Antikörpern behandeln. Das ist präziser und teurer. In der Krebstherapie dominiert heute personalisierte Therapie. Das heißt, dass für einen Patienten ein Medikament aus der genomischen Information seines Tumors hergestellt wird. Spezifischer geht es nicht. Das ist ein riesiger Fortschritt, aber damit ist Massenproduktion nicht mehr möglich. Solche Innovationen bringen das Gesundheitssystem an die Finanzierungsgrenze. Deshalb müssen wir an anderen Stellen kosteneffektiver werden.

Dabei geht es nicht nur um die ambulante Versorgung, sondern um die Kliniken?

Genau. In manchen Gegenden haben wir eine extreme Überversorgung. 15 vergleichbare Krankenhäuser in einem kleinen Radius. Jedes dieser Krankenhäuser macht fast alles. Dabei wären Spezialisierungen sinnvoller für alle. Es macht für die Expertise und für die Patientensicherheit einen riesigen Unterschied, ob man nur zwei Mal im Jahr einen Pankreastumor operiert, oder zwei Mal am Tag. Man muss nicht 15 Krankenhäuser schließen, aber man muss überlegen, wie man sie intelligenter nutzt. Wenn Kliniken nah beieinander, aber in unterschiedlichen Landkreisen liegen, haben wir schnell ein Problem. Krankenhausplanung ist Ländersache. Jeder Politiker wird sein Krankenhaus verteidigen, weil er sonst um die Wiederwahl fürchtet.

Wenn Sie heute ein Krankenhaus planen, wie sähe das aus?

Ich würde die Zahl der Betten und der Krankenhäuser reduzieren. Anforderungen an ein Krankenhaus ändern sich schnell. Deshalb muss Planung Flexibilität ermöglichen. Für die Zukunft ist es wichtig, dass es Strukturen gibt, wo Bettenabteilungen neben ambulanten Abteilungen vorhanden sind. Es ist sinnvoll, dass ein Arzt Patienten, die er entlassen hat, noch mal einbestellen kann oder vor der stationären Behandlung ambulant Vorbereitungen trifft und entscheidet, ob eine stationäre Versorgung erforderlich ist.

Was versprechen Sie sich von den verschiedene Perspektiven beim HSK?

Durch die neue Struktur erreichen wir eine Verschränkung der Themenblöcke. Man schaut nicht nur auf den eigenen Bereich. Deshalb ist der HSK, was die Entwicklung des Gesundheitssystems angeht, der wichtigste Kongress in Deutschland. Natürlich müssen wir den Kongress ständig weiterentwickeln. Wir haben letztes Mal mit einem neuen Format experimentiert, einer offenen Bühne. Das war ein Highlight, was sehr gut angenommen wurde. Das werden wir weiter entwickeln. Hinzu kommt die neue Veranstaltungsreihe zur Spitzenmedizin. Wir brauchen aber auch Impulse von außen. Deshalb kommen wie immer Entscheidungsträger aus der Politik, aus Verbänden, und Institutionen in Verantwortung für das Gesundheitssystem. Der Fachkräftemangel etwa kann nur durch eine „konzertierte Aktion“ aller beseitigt werden.

Der Fachkräftemangel in der Pflege?

Ja, aber ich würde weitergehen und sagen, es geht längst darum, nicht nur Pflegekräfte zu halten, sondern auch Mediziner und Therapeuten. Ein Grund ist, dass die jungen Menschen nicht mehr im selben Maße bereit sind, Nachtschicht zu machen und am nächsten Tag wieder anzutreten. Work-Life-Balance spielt eine andere Rolle als bei den Kollegen vor 20 Jahren.

Werden wir zu wenige Ärzte haben?

Die Frage wird sein, ob wir es schaffen, die Ärzte und Ärztinnen, die wir haben, zu halten und anders einzusetzen. Es gibt – selbst in einer Stadt – Bezirke mit einer deutlichen Überversorgung und gleichzeitig andere mit einer dramatischen Unterversorgung. Versuchen Sie mal in Berlin mit Kopfschmerzen einen Termin beim Neurologen zu bekommen. Da warten Sie als Kassenpatient sechs Wochen. Ähnlich sieht es aus bei Kinderärzten oder in der Psychiatrie.

Wie steht es um die Fachkräfte in der Pflege?

Mit Blick auf die demografische Entwicklung müssen wir uns vor allem das Thema Langzeitpflege ansehen. Da muss vieles reformiert werden. Eine Vereinheitlichung der Pflegeberufe halte ich nicht für sinnvoll. Nicht jede Pflegekraft muss alles können. In der Langzeitpflege muss man sozial und medizinisch anders ausgebildet sein als in der Klinik. Zusätzlich müssen wir überlegen, mit welchen technischen Entwicklungen wir es ermöglichen, länger zuhause zu leben. Wenn die Menschen zwei Jahre länger in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können, reduzieren wir den Bedarf an Pflegeheimen dramatisch. Es gibt viele technische Entwicklungen, die dabei helfen, aber sie werden zu wenig genutzt. Ich nenne nur Sensorik und Künstliche Intelligenz.

In welchen Bereichen wird KI auf dem Kongress sonst Thema sein?

Es geht beispielsweise um die Frage, wie wir zukünftig Arzneimittel entwickeln, verabreichen und kontrollieren. Wie kann KI zur Entwicklung neuer Medikamente für die Therapie von seltenen Krankheiten beitragen? Wie können Gene KI-basiert repariert werden? Es gibt Krebserkrankungen, die hängen an nur einem Gendefekt. Manche Krankheiten können bei Neugeborenen vorhergesagt und eventuell behandelt werden. Das wird die Gesundheitsversorgung verändern. Es geht um mehr, als um die Frage, ob jede Klinik einen Da Vinci Roboter braucht, um sagen zu können, wir setzen KI ein.

Was wird sich durch KI verändern?

Wir haben am ersten Kongresstag eine Veranstaltung zur KI, „Game-Changer bei seltenen Krankheiten“. Ich glaube, dass die medizinischen Anwendungen von KI das gesamte Gesundheitssystem verändert. Wir werden manche Krankheiten nicht mehr mit Medikamenten behandeln, sondern mit so genenannten Genscheren direkt an die Gene gehen. Da stellen sich aber auch ethischen Fragen: Dürfen wir das alles? Wollen wir mit 20 wissen, dass wir eine Krankheit entwickeln, an der wir mit 50 sterben? Die Medizin wird diese Möglichkeiten bieten, damit müssen wir uns ethisch auseinandersetzen. Denn selbst wenn wir selbst nicht wissen wollen, was unsere Gene verraten, unsere Versicherungen oder unseren Arbeitgeber könnte das interessieren. Dafür brauchen wir Antworten.

Carola Dorner 2023. Thieme. All rights reserved.

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