
„Der Schutz des Personals ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung“
Grenzverletzungen und Gewalt in Einrichtungen nehmen zu – wo sehen Sie die Ursachen?
Dr. Iris Hauth: Auf Patientenseite stehen oft emotionale Ausnahmesituationen im Vordergrund – etwa Angst, Schmerz oder Verunsicherung. Menschen geraten in eine Lage, in der sie sich ausgeliefert fühlen, Kontrolle verlieren und mitunter aggressiv reagieren. Auch psychische Erkrankungen, Demenz oder Suchterkrankungen spielen eine Rolle. Frustration über Wartezeiten, eine als mangelhaft empfundene Kommunikation oder das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, können zusätzlich Konflikte befeuern. Auch strukturelle Rahmenbedingungen tragen dazu bei: chronischer Personalmangel, hoher Zeitdruck und fehlende Schulungen zum Umgang mit aggressivem Verhalten lassen viele Mitarbeitende unvorbereitet zurück. Wenn Sicherheitssysteme, bauliche Schutzmaßnahmen oder klare Notfallroutinen fehlen, sind Teams oft auf sich allein gestellt. Gesellschaftlich nimmt zudem der Respekt gegenüber medizinischem Personal spürbar ab.
Vera Lux: Insgesamt beobachten wir überall in der Gesellschaft eine Zunahme von Gewalt, Aggression und sowie eine Abnahme von Toleranz. Diese macht auch vor Einrichtungen im Gesundheitswesen nicht halt. Hinzu kommt, dass Menschen in einer Ausnahmesituation in die Einrichtungen kommen. Es geht ihnen nicht gut, sie sind verletzt, haben Schmerzen und/oder Angst, sorgen sich um ihre Gesundheit und möchten sofort behandelt werden. Dies ist aufgrund des hohen Patientenaufkommens nicht immer möglich. Er erfolgt eine Triage nach Art der Schwere und der Dringlichkeit. Dadurch kann es zu Wartezeiten kommen. Diese Wartezeiten, enge räumliche Verhältnisse und unzureichende Information aber führen zu Unmut und im schlimmsten Fall zu Aggression und Gewalt.
Wie gelingt Prävention – und wie kann Personal vor Ort besser geschützt werden?
Dr. Iris Hauth: Wichtig ist zunächst die kontinuierliche Schulung des Personals im Bereich Deeskalation, Kommunikation und Selbstschutz. Wer lernt, Warnsignale frühzeitig zu erkennen und professionell zu reagieren, kann viele Eskalationen vermeiden. Klare Abläufe, transparente Informationswege und eine wertschätzende Kommunikationskultur stärken zudem die Sicherheit im Alltag. Gleichzeitig braucht es technische und bauliche Maßnahmen: Notfallknöpfe, Alarmanlagen, gut sichtbare Fluchtwege oder geschützte Rückzugsräume sollten in gefährdeten Bereichen selbstverständlich sein. Nicht zuletzt muss auch die Nachsorge ernst genommen werden: Supervision, kollegiale Fallbesprechungen und psychologische Unterstützung sind zentrale Elemente einer gesundheitsfördernden Einrichtungskultur.
Vera Lux: Prävention kann auf mehreren Ebenen (Struktur und Prozesse) erfolgen. Es braucht geeignete bauliche Strukturen, die unterschiedlichen Bedarfen (Kinder, Patienten mit Demenz, Alkoholintoxikation, etc.) besser gerecht werden. Dazu müssen die Prozesse und Abläufe effizient organisiert und an die Patientinnen und Patienten kommuniziert werden, damit diese wissen, wann es wie weitergeht. Dies sorgt für Sicherheit und Vertrauen. Die Schulung der Teams (Medizin und Pflege) ist enorm wichtig, um eskalierende Situationen frühzeitig zu erkennen und deeskalierend eingreifen zu können. Bei Wartezeiten können ausreichend große und gut ausgestattete Räumlichkeiten helfen, zum Beispiel wenn es einen Fernseher und Zeitschriften gibt und WLAN vorhanden ist. Wichtig ist aber auch die Vorhaltung von Getränken (zum Beispiel Kaffee, Wasser und Snacks).
Kann oder sollte Politik einen Beitrag zur Verbesserung der Situation leisten?
Dr. Iris Hauth: Gesetzlich braucht es eine konsequente Ahndung von Übergriffen – etwa durch die Anwendung und gegebenenfalls Erweiterung bestehender Schutzparagrafen im Strafrecht. Finanziell sind Investitionen in bauliche Sicherheitsmaßnahmen, Schulungen und zusätzliche Personalstellen erforderlich. Öffentliche Kampagnen können dazu beitragen, die gesellschaftliche Wahrnehmung für das Thema zu schärfen und den Respekt gegenüber Gesundheitsberufen wieder zu stärken. Darüber hinaus braucht es Forschung, verlässliche Meldewege und institutionelle Verantwortung für Gewaltprävention im Gesundheitswesen. Denn der Schutz des Personals ist keine individuelle Aufgabe, sondern eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung.
Vera Lux: Einerseits sind die Arbeitgeber hier in der Verantwortung. Sie müssen Arbeitsbedingungen schaffen, damit Gewalt und Aggression nicht noch zusätzlich gefördert werden. Andererseits braucht es dafür gute gesetzliche Rahmenbedingungen, wie eine ausreichende Finanzierung der Notfallversorgung, eine adäquate Personalausstattung, eine spezifische Fort- und Weiterbildung (zum Beispiel Deeskalationstraining). Hier ist die Politik gefordert und muss die gesetzlichen Rahmenbedingungen schaffen, damit dies möglich und bezahlbar ist.